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Sa, 5. 7., 19 Uhr // Vortrag über Musiktheorie mit Martin Dornis // SIKS (Koblenzer Straße 9)

Die musikalische Aneignung der Zeit

 

Im Gegensatz zu vielen anderen Künsten, etwa der Malerei, verläuft die Musik deutlich erkennbar in der Zeit. Sie gilt deshalb nicht ohne Grund als die Zeitkunst per se. Bevorzugt in der Musik kann überhaupt künstlerisch bearbeitet werden, was für menschliches Leben von existenzieller Bedeutung ist: dass er sein Leben in der Zeit verbringt, es durch diese mit Anfang und Ende begrenzt ist, er mit der wenigen zur Verfügung stehenden Zeit etwas „Sinnvolles“ anfangen muss, sie ihm ständig jemand „stiehlt“, weshalb sie als „knapp“ gilt und „gespart“ oder, je nach Gusto, auch „entschleunigt“ werden muss.

Was Marx als Kern des revolutionär anzueignenden gesellschaftlichen Reichtums bestimmt: disponable time, ist indes für viele Menschen kaum noch denkbar. Wirklich freie Zeit, also eine, die weder für Produktion (Job, „Karriere“), noch für reproduktive und generative Tätigkeiten (Familie, Kinder, Haushalt) und auch nicht für geldvermittelten Konsum („Freizeit“, „Hobby“) vergeudet wird, ist schwer vorzustellen. Auch wenn das nicht moralisiert werden sollte (entspricht es doch spätkapitalistischer Vergesellschaftung unter kulturindustriellen Bedingungen), ändert es doch nichts daran, dass sich dabei um Zeit handelt, die von der totalisierten Gesellschaft annektiert und okkupiert ist, die also nicht zur freien Verfügung des Einzelnen steht. Wenn aber diese Grundlage von Emanzipation nicht einmal ansatzweise noch vorstellbar ist, dann bekommt materialistische Kritik allerdings ein handfestes Problem. Wer eine wirkliche disponible Zeit nicht einmal ersehnen kann, für den stellt es auch keinen haarsträubenden Skandal dar, für Familie, Karriere, Bürokratie und ähnlichen Klamauk auch nur eine Stunde an endlicher Lebenszeit hergeben zu müssen. Mit anderen Worten: es ist dann egal, ob einem die Lebenszeit durch Staat und Kapital enteignet wird (und – dies ist ihr Wesen – sie existieren von der Zeit, die sie den Individuen entreißen).

Musik könne, so Adorno, „nur durch sinnlich nicht Präsentes, durch Erinnerung oder Erwartung verstanden werden“. Damit ist sie, wie der Dirigent Peter Gülke formuliert, dazu in der Lage, der Hörerin oder dem Hörer durch konzentriertes Zuhören das Gefühl zu vermitteln, einem historisch konstituierten objektivierten Zeitstrom nicht länger ausgeliefert zu sein. Musik könnte so, und dies ist die These des Vortrags, ein entscheidendes Medium der Aneignung des gesellschaftlichen Reichtums in seiner Totalität darstellen, der im Kern wesentlich aus Zeit besteht. Bisherige Revolutionen sind auch deshalb gescheitert, weil genau dies bisher misslang.

Im Vortrag soll anhand einzelner Musikstücke dargestellt werden, dass sich Musik nicht nur mit der Zeit konfrontiert, sondern sie ein zentrales Medium der Konstitution der Zeit und ihres Subjekts ist.

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Der Vortrag knüpft an den Vortrag „Eingedenken der Natur“ (Horkheimer/ Adorno) durch Reflexion des Hörens als gesellschaftlicher Praxis an, der am 14. 2. im Rahmen der Veranstaltungsreihe Leben im Abgrund Selbstverwirklichung stattfand. (Link: http://www.kulturumwaelzer.de/?q=content/neue-musik-als-kritik-des-subjekts)

Veranstaltet von der HARP in Kooperation mit dem AStA der Uni ffm.