Im Frühling blühen die Narzissen
Eine Replik der Redaktion der Zeitschrift Narthex
Vorneweg: Wir finden es in Ordnung, wenn die Redaktion eines Organs wie des CEE IEH Newsflyers das Editorial nutzt, um polemisch gegen eine im Conne Island stattfindende Veranstaltung zu schießen. Die Redaktion des Newsflyers hat uns schließlich nicht eingeladen (wie übrigens auch das CI als Gesamtprojekt nicht – wir haben den Raum vielmehr von uns aus angefragt). Was wir nicht okay finden, ist, wenn, wie geschehen, gleichzeitig der von uns eingesandte Vorstellungstext nicht abgedruckt wird und uns die Chance einer fairen Selbstdarstellung so genommen wird. Im Endresultat wird unsere Releaseveranstaltung wie auch unsere Zeitschrift insgesamt in ein völlig falsches Licht gerückt. Diese Falschdarstellung unseres Projekts und unseres Anliegens soll nun zurechtgerückt werden.
Der Rahmen, in den unsere Zeitschrift gestellt wird, ist die Diskussion darüber, ob man aus emanzipatorischer Sicht eher für eine Liberalisierung der Ladenöffnungszeiten votieren (insbesondere wegen der ‚Spätis‘) oder darin, wie die Redaktion des Newsflyers, eine Kampagne neoliberaler Kapitalisten erblicken sollte, die es abzulehnen gilt. Der ersteren Fraktion werden wir zugeschlagen mitsamt den Leipziger Jungen Liberalen und der HHL Leipzig Graduate School of Management.
In der Tat hielt bei der thematisierten Release-Veranstaltung Paul Stephan, der selbst Mitglied der Redaktion ist, einen Vortrag auf der Basis seines in unserer aktuellen Ausgabe marX. Politische, Ökonomie, Philosophie abgedruckten Artikels Jenseits des Leistungsprinzips. Das Lumpenproletariat als aktuelles Problem, in dem er dafür argumentiert, den Markt aus einer emanzipatorischen Perspektive nicht einfach zu verteufeln, sondern sein selbst emanzipatorisches Potential anzuerkennen. Eine simple Marktablehnung sei demgegenüber regressiv. Sein Kernpunkt lautet dabei, dass der Vorteil des Marktes ist, individuellen Narzissmus – wie er nun einmal ein Faktum ist – nicht einfach nur zu unterdrücken oder zügellos zu entfesseln, sondern ihn zu kultivieren und nutzbar für das Allgemeinwohl zu machen. Um das Beispiel der Redaktion des Newsflyers aufzugreifen: Es gibt offenbar ein starkes gesellschaftliches Bedürfnis danach, auch noch nachts und an Sonn- und Feiertagen Lebensmittel, Tabak und Spirituosen zu erwerben. Zugleich gibt es aber ein Bedürfnis danach, möglichst wenig zu arbeiten und erst recht nicht zu diesen Zeiten. Da der Extraprofit, den die ‚Spätis‘ offensichtlich erwirtschaften können, so hoch ist, finden sich trotzdem einige Leute, die bereit sind, ihre Läden auch zu diesen Zeiten aufzumachen – und dabei sogar staatliche Repression in Kauf zu nehmen. Nicht, weil sie denjenigen, die zu diesen Zeiten gerne etwas einkaufen wollen, einen Gefallen tun wollen oder weil es ihnen irgendwer befehlen müsste – sie agieren vielmehr aus in zweckrationales Handeln übersetztem Eigennutz heraus. Sie sind so faul und eitel wie alle anderen auch – doch der Markt legt ihnen nahe, ihre Faulheit und Eitelkeit zu überwinden, um dafür jedoch letztendlich ökonomisch entschädigt zu werden und zu anderen Zeiten faul sein und ihrer individuellen Eitelkeit frönen zu können. Auch die Redakteure des Newsflyer werden wohl ab und an ihren Nutzen daraus ziehen und sich noch um 1 Uhr nachts ein Bier im ‚Späti‘ um die Ecke holen.
Das ist das Tolle am Markt: Sobald irgendein Bedürfnis auftritt, hinter dem eine halbwegs zahlungskräftige Nachfrage steht, wird sich irgendein findiger Geschäftsmann oder eine clevere Geschäftsfrau finden, der oder die es befriedigt. Der Staat und andere Autoritäten bleiben demgegenüber oft machtlos. ‚Toll‘ ist dabei doppelsinnig zu nehmen: Natürlich gehen mit dieser Entfesselung der Bedürfnisse auch viele Probleme einher. Der Markt ver–rückt die Welt, der Unternehmer ist der Unruhestifter par excellence. Und natürlich macht er dabei auch vor der Sonntags- und Nachtruhe nicht Halt.
Der Markt entfesselt die Bedürfnisse. Die führt nun allerdings in der Tat zu Interessengegensätzen: Das Bedürfnis derer, die gerne noch spät einkaufen wollen, und das derer, bei denen sie einkaufen, kollidiert mit dem derjenigen, die in diesen Läden lohnarbeiten müssen und vom erwähnten Extraprofit somit nur vermittelt profitieren. Hinzu kommt das allgemeine Bedürfnis nach geregelten Arbeits- und Ruhezeiten. Auch wenn die Empirie zeigt, dass auch sehr liberale Öffnungszeitengesetze mitnichten dazu führen, dass darum auch rund um die Uhr Geschäftigkeit herrscht (was auch nicht im Interesse der Unternehmer an einer ausgeruhten Belegschaft liegen kann), lässt sich nur schwerlich bestreiten, dass es hier nicht doch staatlichen Eingriffs und gewerkschaftlichen Kampfs bedarf.
Womit wir mitten im Thema wären, das uns als Gesamtredaktion eigentlich interessiert und das wir bei unserer Releaseveranstaltung diskutiert haben: den Klassenkampf, den als Grundgesetz aller geschichtlichen Entwicklung erkannt zu haben einer der großen Verdienste von Marx ist. Während Paul Stephan gewissermaßen die Partei des Unternehmertums vertrat (wobei sich im Verlauf der Diskussion klar herausstellte, dass er sich selbst eher als Marktsozialisten denn als Freihandelsliberalen bezeichnen würde), widmete sich der zweite Vortrag von Hans Stephan Marx’ und Engels Gewerkschaften und vertrat gewissermaßen den Standpunkt des Proletariats. Und das Heft selbst umfasst zehn weitere Artikel und Interviews, die sich alle aus unterschiedlichsten Perspektiven heraus mit „marX“ befassen. Hätte die Redaktion des Newsflyers den von uns eingereichten Selbstdarstellungstext oder auch nur mehr als den letzten Absatz des Ankündigungstextes unserer Veranstaltung gelesen, wäre das schnell klar geworden.
Das Anliegen unseres Heftes ist so oder so, die Eintönigkeit, mit der Marx oft diskutiert wird, hinter uns zu lassen und Marx als lebendigen Dialogpartner zu behandeln, den es nicht nur auszulegen, sondern den es auch anzugreifen und zu kritisieren gilt. Es gilt dabei v. a., ihn einfach mal ernst zu nehmen: Denn ob Marx nicht selbst für eine Liberalisierung der Ladenöffnungszeiten Partei ergriffen hätte, ist überhaupt nicht ausgemacht. Im Gegenteil hätte er sie wahrscheinlich sogar als Fortschritt der Kapitalisierung der Welt, die er mit einem Fortschritt in der allgemeinen Emanzipation der Menschheit für identisch hielt – so bürgerlich und liberal war Marx – begrüßt und gegen konservative Bedenkträgerei verteidigt.
Sich einzelne Sätze aus irgendwelchen Texten herauszugreifen und von diesen ausgehend dann eine Feindbestimmung vorzunehmen – das ist eine leichte Übung und unsere Sache nicht. Wir wollen lieber von der Sache her denken und von dieser her gedacht auch widerstreitenden Perspektiven auf denselben Gegenstand Raum geben, um den Widerstreit überhaupt erst einmal kenntlich zu machen und seinen Austrag zu ermöglichen. Das ist uns in unserer Releaseveranstaltung wie auch dem Heft, denken wir, gelungen. Es ist schade, dass die Redaktion des Newsflyers mit der dadurch erzeugten Vieldeutigkeit nicht umzugehen wusste und uns gleich den Stempel ‚Feind‘ aufdrücken musste – und uns dementsprechend feindselig behandelte. Leider ist dies eine in der Linken oft zu beobachtende Vorgehensweise. Man kann dies auch auf den Begriff der Dummheit bringen – die moralisch verwerflich wird, sobald sie selbst gewählt ist. Wir halten es dagegen mit der Philosophie als „der Gedanke, der sich nicht abbremsen lässt.“ (Adorno)
Wer mehr über die Zeitschrift Narthex und unser Projekt als Ganzes erfahren möchte, dem sei unsere Internetseite empfohlen: harp.tf.