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Aus der Bastelstube des Denkens – Eine philosophische Werkschau

Aus der Bastelstube des Denkens

Eine philosophische Werkschau

 

Am 16. Juli 2016 im Multiversum

(Bieberer Straße 13, Offenbach)

 

Die Philosophie scheint neben der Kunst eine der wenigen Nischen, in denen dem alten Ideal des selbstständigen Handwerksmeisters, dem Prototyp des Bürgers, in einer Zeit massiven Verlust an individueller Selbstständigkeit durch Arbeitsteilung und Digitalisierung ein – wenn auch kümmerliches – Fortwesen zugeteilt wird. Hier darf sich der Mensch noch als Selbst fühlen, das in relativer Unabhängigkeit vor sich hin werkelt und ganz DIY-mäßig Arbeiten produziert, die als Spiegel und Ausdruck der eigenen Individualität und Authentizität fungieren können. Sie ist ein Asyl für Verschrobenes und Antiquiertes, Verspieltes und sonst wie Abseitiges, einer Rumpelkammer oder – schlimmer vielleicht noch – einem Museum gleich, in denen gesamtgesellschaftlich kaum mehr benötigten Antiquitäten vor der finalen Verschrottung eine letzte Heimstätte als Rarität gewährt wird.

Entgegen der Tendenz, auch dieses Reservat noch aufzulösen durch, womöglich gar „exzellente“, Professionalisierung und Rationalisierung der Philosophie – in der sich ihre „goldenen“ wissenschaftlichen Sturm-und-Drang-Perioden als Farce wiederholen –, geht es uns eher darum, uns dieses – sicherlich selbst kitschig und abgestanden gewordene – Bild der Philosophie in einer reflexiven Weise anzueignen, die seiner Begrenztheit gewahr ist und sie womöglich dadurch überschreitet hin auf die Vorstellung einer – in einer vollständig digitalisierten Welt womöglich gerade erst möglichen – utopischen Bastelstube, in der es keinen Unterschied mehr zwischen drinnen und draußen gäbe, sondern die die gesamte Welt umfasst und in der sich der Bastler nicht wie ein abseitiger Sonderling, sondern wie ein heimisch gewordener bewegte, die nicht mehr feindliche Wüste, sondern freundliche Spielwiese wäre.

Dementsprechend verstehen sich die vorgestellten Gedanken auch weder als Werke noch als Stücke eines größeren Werkes im Rahmen einer repressiven Arbeitsteilung, sondern als im ständigen Werden begriffene Basteleien, die sich zu ihrer Umwelt in multiplen Beziehungen permanenter Resonanz befinden und selbst zu Elementen neuer Basteleien werden können und sollen. Eher Ratschlag als Ratgeber, eher Exkurs als Kapitel, eher Experiment und Hypothese als Theorie. Vielleicht auch bloß provisorisch zusammengeleimt. Auf jeden Fall eher in der Lage ihrerseits Resonanzen zu entfalten als jedwede Art von System.

 

Programm:

 

11 Uhr: Niklas Fiedler (Frankfurt am Main): Ewigkeit im Wandel der Zeit. Die Veränderung eines Begriffs durch die Fotografie

12.15 Uhr: Adrian Paukstat (Augsburg): Salafiyya und „Salafismus“: Fragen zum Verhältnis von Mythos und Aufklärung im islamischen Reformdenken

12.15 Uhr: Nicky Mühlhäuser (Frankfurt am Main): Unmöglichkeit und Notwendigkeit der Identität zu entfliehen – Das Paradox der Philosophie bei Gilles Deleuze und Theodor W. Adorno

 

15 Uhr: Georg Spoo (Freiburg): Adornos Praxiskritik und Krahls Adornokritik

15 Uhr: Marcus Döller (Frankfurt am Main): Behauptung im Nachlass als Befragung des Werkes – Der Weg zur Tragödie als ethische Befreiung im ästhetischen Spiel [Über Nietzsche]

16.15 Uhr: Michael Jekel (Frankfurt am Main): Max Horkheimer: „Lenin, Empiriokritizismus“. Max Horkheimers Reaktion auf Lenins erkenntnistheoretische Streitschrift „Materialismus und Empiriokritizismus“

 

18.30 Uhr: Paul Stephan (Frankfurt am Main): Der Maus – Ein Ex-kurs

19.15 Uhr: Martín Ramirez (Jena): Die schöpferische Zerstörung des Selbst: Charles Bukowskis Kritik der Moderne

19.15 Uhr: Rafael Rehm (Darmstadt): Die Bedingung der Möglichkeit der Mobilisierung einer kritischen Masse anbetracht der Katastrophen des 19. und 20. Jahrhunderts nach einer Dialektik der Geschichte von Walter Benjamin

 

Ab 21 Uhr: Halkyonischer Barabend mit Musik von Lei Feistung und Bill B. Wintermute vom Institut de Déstabilisation.

 

Gefördert vom studentischen Projektrat der Goethe-Universität.

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Ankündigungstexte der einzelnen Vorträge:

 

Niklas Fiedler:

Ewigkeit im Wandel der Zeit

Die Veränderung eines Begriffs durch die Fotografie

 

Ewigkeit … das ist ein feierliches Wort, das Ehrfurcht erweckt und ähnlich pathosbeladen ist wie die Worte „Gott“, „Jenseits“ oder „Wahrheit“. Wie diese ist auch das Wort „Ewigkeit“ äußerst diffus. Seine Bedeutung wandelte sich im Laufe der Geschichte mehrfach und ist wie jeder Grenzbegriff, den sich der Mensch ausdenkt, dem Zahn der Zeit unterworfen …

Bild Niklas 1

 

Zunächst begegnet uns Ewigkeit in der klassischen Malerei, das Bild konservierte den flüchtigen Moment für immer und enthob das Alltägliche damit als „Wahres, Schönes und Gutes“ dem Fluss der Zeit. Das Vergängliche lag nun als Kunst auf einem „Altar der Ewigkeit“ und konnte ehrfürchtig angestaunt werden. Ewigkeit war zunächst also bloß als Gegenbegriff zum Vergänglichen fassbar.

Bild Niklas 2

Diese religiös angehauchte Konnotation von Ewigkeit verschwand mit dem Aufkommen der Fotografie. Nun rückte der unmittelbare Jetztmoment in den Fokus, das Ewige war nun nicht mehr etwas rein Abstraktes, sondern etwas ganz Konkretes. Die Kamera sieht Dinge von derartig rätselhafter Schönheit, wie das das Auge des nie ganz gegenwärtigen Menschen nicht erkennen würde. Dieser Gedanke ist aber nur dann plausibel, wenn das Foto tatsächlich authentisch ist. Dies wird mit dem zunehmenden Einsatz von Photoshop immer fraglichen. Ein drittes Verständnis von Ewigkeit kam in Sicht: Wahr, schön und gut ist nicht dasjenige, was dem Flüchtigen enthoben ist oder dasjenige, was das Flüchtige einfängt, sondern das, was jenseits von Zeit überhaupt ist – also künstlich.

Bild Niklas 3

Diesen Wandel des Wortes möchte ich an drei Fotobeispielen aus den Jahren 1932, 1953 und 1993 erläutern. In jedem der Bilder manifestiert sich ein anderes Ewigkeitsverständnis. Es erwartet uns eine philosophische Zeitreise, eine Genealogie der Ewigkeit mit Exkursen zum christlichen „Jenseits“, griechischen Zeitgöttern, fotografischen Konventionen, der Macht von Photoshop und natürlich unserem alles überstrahlenden Titanen und interessantestem und nervigsten Querkopf der je unter den Philosophen weilte: Friedrich Nietzsche.

 

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Adrian Paukstatt:

Salafiyya und „Salafismus“

Fragen zum Verhältnis von Mythos und Aufklärung im islamischen Reformdenken

 

Nicht erst seit den Anschlägen des IS, den Absagen diverser Großevents und dem Anwachsen der bundesdeutschen Szene, gehört der Begriff „Salafimus“ zu den wohl am inflationärsten gebrauchten Termini des inländischen und internationalen Mediendiskurses. Dass hierbei die trennscharfe Begriffsarbeit, die eigentlich erforderlich wäre, gerade nicht gemacht wird, liegt in der Natur öffentlicher Diskurse.

In diesem Vortrag soll, ausgehend von einer kurzen Einführung in den Begriff und die Begriffsgeschichte des „Salafismus“, das Verhältnis zwischen rationalen und mythischen Elementen im religiösen Denken in Anlehnung an die proto-aufklärerische Tradition der „Salafiyya“, einer islamischen Reformbewegung des 19. Jahrhunderts, nachvollzogen werden. Der eigentümliche Kern des Denkens der Salafiyya, wird hierbei vor allem in der Tatsache festgemacht, dass dessen Autoren, wie Jamal Ad-Din al-Afghani, Mohammed Abduh und Rashid Rida, zwar einerseits eine der christlichen Reformation nicht unähnliche und explizit rationalistische Lesart der islamischen Quellen einforderten, sie andererseits aber (und zu Recht) auch als die zentralen Stichwortgeber des politischen Islam und auch dessen jihadistischer Varianten gelten.

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Nicky Mühlhäuser:

Unmöglichkeit und Notwendigkeit der Identität zu entfliehen

Das Paradox der Philosophie bei Gilles Deleuze und Theodor W. Adorno

 

 Philosophie als „Bastelstube“? Gilles Deleuze beschreibt Philosophie als „experimentieren“ und als „Theater der Zukunft“. Statt einen Wahrheitsanspruch zu stellen, muss sie das Denken in Bewegung setzen und so jeglicher illusionären Identität entgegenwirken. Der Philosoph „bastelt“ Begriffe, schafft Rhizome. Das Ziel ist es, die Differenz von der Unterordnung unter die Identität zu befreien. Nur die „Bastelei“ der Philosophie kann die immer wieder auftretenden Festschreibungen – „Segmentierungen“ – subjektiven Denkens unterwandern. Theodor W. Adorno verschreibt sich einem ähnlichen Ziel. Er betont, dass Philosophie keinen festen Charakter haben darf, sondern sich „in ihrem Fortgang unablässig erneuern“ müsse.

Ich werde in diesem Beitrag diskutieren, inwiefern ein Vergleich zwischen diesen beiden Theoretikern (auch wenn es zunächst abwegig erscheint Poststrukturalismus und Kritische Theorie miteinander zu verbinden) gerechtfertigt ist: Bei beiden ist die Kritik der Identität die Grundlage ihrer Philosophie. Adorno beschreibt, dass Denken immer begrifflich – also identifizierend und identitär – sein muss und es damit das Nichtidentische negiert. Vernunft und Denken basieren auf dem Ausschluss von Natürlichem, Subjektivem und Differentem. Im Denken selbst ist so bereits die „Barbarei“ der Menschheit eingeschrieben. Philosophie muss ein Korrektiv zu dieser Form des Denkens darstellen, auch wenn sie selbst der Identität nicht entgehen kann.

Deleuze beschreibt eine ähnliche Verknüpfung zwischen einer subjektiven Form des Denkens und  einer damit verbundenen Identitätsillusion. Ein bewusstes, aktives Subjekt kann nur bereits Identifiziertes wiedererkennen und negiert damit die tatsächlich bestehenden reinen Differenzen. Durch diese Form des Denkens – das bildhafte – wird man „keinen Schritt vorankommen, Gefangener derselben Höhle oder der Ideen der Zeit“ bleiben.

Beide kommen zu dem Ergebnis, dass subjektives Denken identifizierend sein muss. Welche Rolle kann der Philosophie dann noch zukommen?

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Georg Spoo:

Adornos Praxiskritik und Krahls Adornokritik

Ankündigungstext folgt.

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Marcus Döller:

Behauptung im Nachlass als Befragung des Werkes – Der Weg zur Tragödie als ethische Befreiung im ästhetischen Spiel

 

Der Vortrag erläutert zwei Sätze Nietzsches in ihrer gegenläufigen Logik: Im Nachlass wird ein Satz behauptet, der im Werk befragt wird. Während es im Nachlass heißt: „Meine Philosophie wird zur Tragödie“, steht im Werk: „Aber wird so unsere Philosophie nicht zur Tragödie?“ Beide Sätze sagen Gegensätzliches aus: In ihrer Entgegensetzung sind sie aber zugleich aufeinander bezogen. Das Werk stellt in Frage, was der Nachlass behauptet: Der Satz im Werk stellt sich dar als die Befragung der Behauptung eines Satzes im Nachlass. Die beiden Modi des Philosophierens – die der Befragung und die der Behauptung – sind durch das Werden zur Tragödie hin miteinander verbunden. Der Prozess von der Befragung im Werk zur Behauptung im Nachlass macht erst das Werden der Philosophie deutlich: Einer Philosophie die Unterwegs ist zur Tragödie. Eine Philosophie, die zur Tragödie wird, ist eine, die noch nicht Tragödie, aber auch nicht mehr Philosophie ist. Die Philosophie bewegt sich von sich weg auf die Tragödie hin, das heißt hier: Die Philosophie setzt den Behauptungen, die sie macht, im selben Zug die Befragung der von ihr gemachten Behauptungen entgegen. In der Entgegensetzung von Behauptung und Befragung konstituiert sich die Philosophie im Prozess eines Werdens, das ethische Widersprüche artikuliert und ästhetisch als Tragödie zur Aufführung bringt.

 

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Michael Jekel:

Max Horkheimer: Lenin, Empiriokritizismus

Max Horkheimers Reaktion auf Lenins erkenntnistheoretische Streitschrift Materialismus und Empiriokritizismus

 

Max Horkheimers nachgelassene Schriften enthalten einen um 1928 angefertigten Aufsatz über Lenins philosophisches Hauptwerk Materialismus und Empiriokritizismus, der vom Frankfurter Horkheimer-Nachfolger Alfred Schmidt herausgegeben wurde; Lenins philosophisches Anliegen in seiner 1927 erstmals auf Deutsch erschienenen Streitschrift bestand darin, der erkenntnistheoretischen Verunsicherung entgegenzuwirken, die durch Übernahme von Ansichten des österreichischen Physikers Ernst Mach in Teilen der russischen revolutionären Sozialdemokratie entstanden war.

Ernst Mach vertrat eine skeptizistische Erkenntnistheorie, gemäß der die Annahme einer vom menschlichen Bewusstsein unabhängig existierenden realen Materie, die Ursache und Ausgangspunkt unserer Sinneswahrnehmungen ist, als unnötig und kontraproduktiv über Bord zu werfen wäre; Mach und seine russischen Anhänger glaubten, in dieser Weise die philosophische Alternative zwischen erkenntnistheoretischem Materialismus und Idealismus überwunden zu haben. Nur alleine die Sinneswahrnehmungen seien angemessene Gegenstände unseres wissenschaftlichen Erkenntnisstrebens, weshalb die Annahme einer in ihnen gegebenen bewusstseinsunabhängigen Realität überflüssig sei – der Materialismus sei somit veraltet.

Nach 1905 floh Lenin aus Russland und nutze die Zeit in der westeuropäischen Emigration zu intensiven Recherchen in wissenschaftlichen Bibliotheken, wobei er philosophisches Material zusammentrug, um die machistischen und empiriokritischen Ansichten seiner russischen Parteifreunde zu widerlegen, die weiterhin bestrebt waren, den Marxismus vom Materialismus zu reinigen – als Ergebnis seiner philosophischen Anstrengungen legte Lenin im Jahre 1909 sein mehr als 300 Seiten starkes Werk Materialismus und Empiriokritizismus vor, dessen erkenntnistheoretische Pointe darin besteht, den philosophischen Materiebegriff nicht mehr nur rein stofflich aufzufassen, sondern ihn für auch sonstige physikalische Naturgegebenheiten zu öffnen.

Nach dem politischen Zerfall des Ost-Marxismus, für den Materialismus und Empiriokritizismus einen zentralen philosophischen Grundlagentext darstellte, hat das Rezeptionsinteresse an Lenins erkenntnistheoretischem Hauptwerk stark nachgelassen; allerdings verdankten auch bedeutsame west-marxistische Theoretiker wie M. Horkheimer und A. Schmidt ihrer Auseinandersetzung mit Lenins erkenntnistheoretischer Polemik entscheidende philosophische Impulse, wobei sich die Frage stellt, inwiefern Lenins Argumentation zur Verteidigung des erkenntnistheoretischen Materialismus in Hinblick auf zeitgenössische wissenschaftstheoretische Diskussionen womöglich erneut wieder ideologiekritisch produktiv gemacht werden könnte.

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Paul Stephan:

Der Maus

Ein Ex-kurs

 

„Wir überließen das Manuskript der nagenden Kritik der Mäuse um so williger, als wir unsern Hauptzweck erreicht hatten – Selbstverständigung.“ (Karl Marx)

„Die Deutschen werden auch in meinem Falle wieder Alles versuchen, um aus einem ungeheuren Schicksal eine Maus zu gebären.“ (Friedrich Nietzsche)

„Die Maus‚ die einen Berg gebar‚ die — bist du selber fast!“ (Friedrich Nietzsche)

„Sei kein Frosch, kleine Maus.“ (Alexander Marcus)

 

In unserer Kultur wird die Maus weithin als parasitärer Schädling gejagt, als Schmusetier verniedlicht oder als unfreiwillige Laborassistenz missbraucht. Sie ist das Opfer schlechthin – doch auch das gejagte Tier, dem es aufgrund seiner Schnelligkeit und Wendigkeit immer wieder gelingt, sich dem Zugriff der Macht zu entziehen und das Spiel umzukehren: Sie treibt ihre Häscher buchstäblich in den Wahnsinn und tut sich an den Vorratskammern gütlich. Ihre Kleinheit provoziert die Größe gerade, indem sie die Größe als Kleinheit, die Stärke als Schwäche erweist. Die Maus ist das widerständige Tier per se.

In den großkotzigen Tempelbauten der westlichen Philosophie war für dieses Ungeziefer nie Platz. Selbst der animalistische aller großen Denker, Nietzsche, versäumte die Aufnahme der Maus in sein Bestiarum. Ihre eigensinnige Lebensweise steht sich schließlich quer auch zu seinem großen Dualismus zwischen Raub- und Herdentier. Handelt es sich hier um eine Fluchtlinie, die er aufgrund seiner Befangenheit in der europäischen Metaphysik nicht in der Lage war auch nur zu sehen?

Der einzige westliche Theoretiker, der die Bedeutung der Maus bislang anzuerkennen vermochte, war Karl Marx. Doch auch dies eher in Form einer Fehlleistung: Man möchte fast sagen, er hätte sich in der Rede von der „nagenden Kritik der Mäuse“ verplappert. In der logozentristischen Hybris, die auch er teilt, meint er, sobald der Hauptzweck der Philosophie – narzisstische Selbstbespiegelung, self-empowerment – erreicht ist, über die Materialität der Gedanken (seine sprachliche Gestalt, den Text) hinwegsehen zu können. Und doch ist er ein Faktor, den er zumindest zu erwähnen hat: Die unheimliche Materialität des Denkens selbst. Insofern die Maus das Denken stets von seiner Materialität her beschnüffelt bricht sie mit den Regeln immanenter, dialektischer Kritik. Ihr Knabbern ist ein unreflektierter muskulärer Materialismus, der radikaler ist als jeder organische Histo- oder Diamat und seine verzweifelten Aktualisierungsversuche.

Was könnte es heißen, die Philosophie neu von dem Leitbild der Maus her zu begründen und ihr in die Gänge ihres Baus zu folgen – und welche konkreten Folgerungen für die Praxis hätte dies? Ließe sich von der Maus her eine Konzeption subversiver Praxis in einer mehr oder weniger vollständig zur Kollektion von Mausefallen und Käfigen gewordenen Welt entwickeln?

Das Fiepsen der Maus ist der Ruf der Freiheit.

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Martín Ramirez:

Die schöpferische Zerstörung des Selbst

Charles Bukowskis Kritik der Moderne

 

Der animalische Drive und die Energieleistungen meiner Mitmenschen gaben mir nichts als Rätsel auf. Ich verstand nicht, wie einer den ganzen Tag Autoreifen wechseln oder einen Speiseeiswagen durch die Gegend schieben oder einem anderen, als Arzt oder Mörder, den Bauch aufschlitzen konnte. Ich wollte mich nicht darauf einlassen und will es bis heute nicht. Jeden Tag, um den ich dieses Leben und dieses System bescheißen konnte, war für mich ein Sieg.

Charles Bukowski

 

Dieses transphilosophische Experiment versucht aus Textpassagen und Gedichten des US-Amerikanischen Schriftstellers Charles Bukowski (1929-1994) einen kritischen Blick in das „goldene Zeitalter“ der westlichen Welt (1945-1973) herzustellen. Der Wohlstand und Arbeiterethos der amerikanischen Gesellschaft dieser Jahre lassen sich in seinem Werk als Triebfeder einer entfremdeten und sinnlosen Welt lesen. Die literarische Figur des Hank Chinaski – Bukowskis Alter-Ego – wird als ein personifizierter Versuch dargestellt, der Sinnlosigkeit dieser Welt zu entkommen. Das Schreiben spielt dabei eine zentrale Rolle. Der Rausch, der mit dem Schreiben einhergeht, eröffnet einen Raum der Versöhnung mit der Wirklichkeit, der Schöpfung und der Sinnstiftung. Das Leben des Chinaski repräsentiert zugleich jenes Andere der Moderne: das Leidenschaftliche, das Dreckige, das Irrationale, das Inkorrekte, den Abfall, die Selbstzerstörung und das Hässliche. Es ist nur so, dass das Leben in der Moderne einen Sinn haben kann – in der schöpferischen Zerstörung des Selbst.

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Rafael Rehm:

Die Bedingung der Möglichkeit der Mobilisierung einer kritischen Masse anbetracht der Katastrophen des 19. und 20. Jahrhunderts nach einer Dialektik der Geschichte von Walter Benjamin

 

Auch die stärkste Lokomotive vollbringt keine Wunder: Sie ändert die Gesetze des Raums nicht, sondern beschleunigt nur die Bewegung.

(Leo Trotzki)

Im Vortrag soll anhand der Geschichtsphilosophie von Walter Benjamin ein alternatives Konzept herausgearbeitet werden, welches es erlaubt, historische Prozesse und somit die Bilder der Lebenswelt als Metaerzählung neu zu chiffrieren, um somit den Begriff des gesellschaftlichen Fortschritts neu zu verorten und ihn brauchbar zu machen für die Mobilisierung einer kritischen Masse. Es geht darum, eine Dialektik im gegenwärtigen Diskurs zu positionieren, die sich sowohl von einer Dialektik der Notwendigkeit Hegels als auch von der Dialektik reiner Negativität Adornos unterscheidet. Im Weiteren geht es darum zu zeigen, warum eine solche Dialektik, die notwendig zugleich Geschichtsphilosophie ist, für die Bedingung der Möglichkeit der Mobilisierung einer kritischen Masse konstitutiv ist und was die spezifischen Differenzen zur Theorie des kommunikativen Handelns von Jürgen Habermas und der Anerkennungstheorie von Axel Honneth in Bezug auf die Mobilisierung einer kritischen Masse sind.

Nach Walter Benjamin subsistiert das dialektische Bild als stillgelegter Denkausschnitt, in dem sich durch die Negation eines Sinnes für die Geschichte ein Sinn für die Gegenwart kommunizierbar machen kann. Die Bedingung der Möglichkeit einer Erkenntnis in der Gegenwart von dem, was die Gegenwart als solche sein könnte, ist der Abbruch der linearen Zeit als kontinuierliche Bewegung der Dialektik. Nach Benjamin bietet die monadologische Struktur des dialektischen Bildes dem historischen Materialisten genau diese Bedingung der Möglichkeit. Im Fragment Über den Begriff der Geschichte (1940) schreibt Benjamin: „In dieser Struktur erkennt er [der historische Materialist] das Zeichen einer messianischen Stilstellung des Geschehens, anders gesagt, einer revolutionären Chance im Kampfe für die unterdrücke Vergangenheit.“

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  1. HARP › on Donnerstag, Dezember 22, 2016 at 22:04

    […] Weihnachtsgeschenk an die Welt: Der komplette Mitschnitt der „Bastelstube des Denkens“ als Video auf […]