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Eigentlich wollten wir die sechste Ausgabe der Narthex ja der Philosophie Sahra Wagenknechts widmen. Da unser Mäzen jedoch leider absprang, konnten wir unsere hochtrabenden Pläne leider nicht verwirklichen und müssen uns darum mit dem Thema „DDR“ als ‚Wagenknecht light‘ gewissermaßen abfinden.
Als unverbesserliche Feminist*innen, die wir nun einmal sind, wollen wir nun aber endlich doch einmal eine Ausgabe zu einer bedeutenden Philosophin der Gegenwart gestalten. Die Wahl fiel uns nicht schwer: Sie traf Ursula von der Leyen. Wenn Wagenknecht der Marx des 21. Jahrhunderts wäre, dann von der Leyen die Wiedergeburt der imaginären Leibesfrucht von Carl Schmitt und Rosa Luxemburg in einer Person. Die Mutter von sieben Kindern bewies sich als Familien- und Arbeitsministerin und sanierte erfolgreich die Bundeswehr, die unter ihrer Ägide wieder zur kampffähigsten und effizientesten Streitmacht der Welt wurde – nun ist sie der europäische Obama und wird uns durch die schwerste Krise seit dem Zweiten Weltkrieg leiten.
Den gegenwärtigen Corona-Ausnahmezustand meistert sie mit gewohnter Souveränität und bringt der EU nun endlich die lang ersehnte Einheitlichkeit unter einer starken, ruhigen und entschlossenen Hand. Sie rettet das Klima, sie verteidigt wie eine Jean d’Arc unserer Zeit die Grenzen des Reiches gegen einfallende Barbar*innenhorden. Ihr politisches Talent geht sogar so weit, dass sie der/die wohl erste demokratische Politiker*in ist, die eine Wahl gewann, zu der sie gar nicht angetreten ist. Von einem Schmittianischen Demokratiebegriff belehrt, erblicken darin nur eitle formalistische Spötter*innen, die die Zeichen der Zeit verkannt haben, vom Schlage der ewig unbelehrbaren deutschen, antifeministischen Sozialdemokratie darin einen Skandal: Was der eigentliche Volkswille ist, bestimmt sich eben nicht an der Wahlurne, sondern kann sich, ähnlich der Kaiserkrönung im Heiligen Römischen Reich, dem Vorgängerstaat der heutigen EU, auch durch eine Kür der erwählten Fürsten erweisen. So ist von der Leyen nicht zuletzt eines: Die lang ersehnte Widergeburt des „Barbarossa“, von Friedrich dem II., dem der große Ernst Kantorowicz seine monumentale Studie widmete. Wie der ewig-junge Sonnengott wird von der Leyen Europa gegen äußere Bedrohungen und innere Unruhestifter*innen verteidigen und zu einer einzigartigen kulturellen Blüte führen. Sie ist die Philosophin auf dem Thron, von dem die Weisen seit Plato träumten, sie realisiert den Traum Napoleons und vieler anderer großer Staatsmänner und -frauen von einem europäischen Friedensreichs, sie wird den Muslim*innen ein weiteres Mal den Weg nach Wien wehren, ihr Hofstaat wird die größten Wissenschaftler*innen, Künstler*innen und Gelehrt*innen aus aller Welt versammeln und das Epizentrum einer neuen Renaissance sein. Wenn Stalin, ein Wort Blochs aufgreifend, Jesus mit dem Maschinengewehr gewesen ist, dann ist von der Leyen die Mutter Gottes mit der Fernbedienung für Drohnen, immer bereit für den Erstschlag.
Wir informieren bereits jetzt über einige bereits feststehende Beiträge:
Einen Text wird Ursula von der Leyen nicht beisteuern, aber sie wird als Mitherausgeberin des Hefts fungieren.
Die bedeutende feministische Philosophin Adelheid Mittgard wird in einem Artikel die Verdienste von der Leyens für die Rechte der Frauen und LDTIQ-Individuen hervorheben. Die Präsidentin der EU-Kommission sei eine Vorkämpferin der Frauenemanzipation, eine Inspirationsquelle für Millionen junger Frauen und auch Männer. Den alten weißen Männern ein Dorn im Auge, eine mutige Einzelkämpferin, die sich gegen eine Mauer des Widerstandes durchgesetzt habe und nun (viele) Mauern durchbreche.
Erwartungsgemäß wird es sich auch Paul Stephan wieder einmal nicht nehmen lassen, sich auch zu diesem Thema zu äußern. Unter dem Titel Diese Hände! will er die mediale Inszenierung von von der Leyens Händen untersuchen als Versuch des Begreifens des Begreifens. Seine These lautet, dass man an ihrer Politik dies oder jenes kritisieren mag – an der Integrität ihrer Greiforgane bestehe hingegen kein Zweifel und dies verbürge die Alternativlosigkeit ihrer Handlungen.
Andreas Urs Sommer wird sich in einem Artikel mit von der Leyens ungeschriebenem Hauptwerk Meine Philosophie auseinandersetzen. Er wagt darin die Prognose, dass es auch ungeschrieben bleiben werde, da von der Leyens Nicht-Philosophieren genau der Witz ihrer Philosophie sei: Praxis gehe für sie dem Denken voraus, die mutige Entscheidung der Reflexion, der Führer*innenentscheid dem Parlamentsbeschluss, die Direktive der Wahl. (siehe Nachtrag unten)
Christine Lagarde wird einen Artikel mit dem Titel Phänomenologie der Korruption beisteuern. Im Gegensatz zu objektivistischen Betrachtungsweisen dieses oft vernachlässigten Gegenstandes, die sich ihm nur aus der Beobachter*innenperspektive nähern, wählt Lagarde eine praxeologische Innenperspektive, um ihn in seiner Erlebnisqualität hervortreten zu lassen. Ihr gelingt es durch diesen bahnbrechenden Ansatz, die Motive für Korruption verständlich zu machen und den Beigeschmack der moralischen Verwerflichkeit, der ihr leider vielfach noch anhaftet, zumindest ein wenig zu überzuckern. Korruption habe jedoch auch sehr viel mit positiv besetzten Werten wie Freundschaft, Loyalität und Verschwiegenheit zu tun und werde zu Unrecht einseitig negativ beurteilt; ein Gemeinwesen könne ohne sie ebenso wenig existieren wie eine moderne Behörde ohne externe Berater*innen oder ein modernes Parlament ohne Berater*innen aus der Wirtschaft.
Der ungarische Philosoph Nándor Nagy schließt sich den Würdigungen von von der Leyens an und erblickt in ihr eine „Magyarin des Geistes“, die sich erfolgreich für die Etablierung ungarischer Werte wie Disziplin, Solidarität und Gemeinsinn auf gesamteuropäischer Ebene einsetze. Einzig die von ihr favorisierte Corona-Politik sei noch ein wenig zu zörgerlich, hier gelte es nachzubessern.
Weitere Artikel werden folgen; die Preisfrage für den Eos-Preis 2021 wird voraussichtlich lauten: „Inwiefern ist Ursula von der Leyen die Retterin Europas oder sogar der Welt?“
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Nachtrag:
Uns ist ein kleiner Fehler bezüglich Andreas Urs Sommers Artikel unterlaufen. Wir werden voraussichtlich sein romantisches Epos in 6.666 Strophen Flinten-Uschi. Oder die Nachtseite des Denkens abdrucken, an dem auch Durs Grünbein beteiligt sein wird.