Prof. Dr. Hans-Martin Schönherr-Mann, Univ. München
Öffentliche Vorlesung online im WS 2021/22
Philosophische Kritik der Demokratie im Ausnahmezustand
Mittwoch 20.15-21.45h 20.10.2021-23.2.2022
Veranstalter: Halkyonische Assoziation für radikale Philosophie
Die Vorlesung schließt an die Vorlesung im Sommersemester an (Link): Philosophische Kritik der Corona-Politik. Je nach aktueller Situation wird die Corona-Politik und die Medizinisierung der Gesellschaft in den Vordergrund treten. Grundsätzlich geht es um die durch den Ausnahmezustand aufgehobene Demokratie, deren Zukunft dadurch auch in Frage steht. Aber nicht erst die Corona-Politik gefährdet die Demokratie. Seit ihren Anfängen beteiligt sie keineswegs eine möglichst große Zahl von Menschen, sondern schließt diese elitär von der Politik aus. Demokratie achtet nicht notwendig die Menschenrechte oder die Rechte von Minderheiten. Vielmehr führt sie sich als Mehrheitsdiktatur auf, die den Ausnahmezustand befördert. Einerseits dient sie Kapitalinteressen, die mit der Medizinisierung verwoben sind, die ihrerseits durch die Technologisierung und Informatisierung beschleunigt wird – begleitet von Medien, die an diesen Prozessen höchstens noch eine sehr verhaltene Kritik üben, genauso wie der demokratische Konsens kaum noch darauf Rücksicht nimmt, dass die Menschen eigentlich als mündig behandelt werden müssen. Emanzipationsprozesse geraten auf diese Weise ebenfalls ins Stocken, wie liberale Vorstellungen der Demokratie verdrängt werden. Überlebt die Demokratie die Corona-Politik oder kann man nur noch auf einen demokratischen Neuanfang hoffen, der angesichts von Informatisierung, Medizinisierung und Ökonomisierung kaum in Sicht ist.
Die Vorlesung beleuchtet aktuelle politische Geschehnisse nicht nur rings um die Corona-Politik aus philosophischer Perspektive. Dabei greift sie primär auf die Philosophie des 20. und 21. Jahrhunderts zurück. Die Vorlesung bemüht sich um Verständlichkeit und führt daher auch in diese Philosophien en passant ein.
Zur Teilnahme an der Zoom-Konferenz mit der Möglichkeit zum Stellen von Fragen per Mikrofon und Kamera, wird um vorherige Anmeldung gebeten an harp [at] riseup.net (oder alternativ hier).
Parallel werden die Vorlesungen auch auf Youtube gestreamt. Über den Stream soll man auch Fragen über die Chatfunktion stellen können. Die Links zu den Streams werden rechtzeitig vorher hier angekündigt. Für diese Teilnahmeoption ist keine vorherige Anmeldung erforderlich.
Die Streams werden alle auf Youtube aufgezeichnet, so dass die Vorlesungen auch noch im nachhinein angesehen werden können.
Programm
20.10. Befindet sich die Demokratie nicht erst seit Corona in der Krise? Herrschen nicht längst die Finanzmärkte, die globalen Konzerne wie die Medien vor, wie es der britische Soziologe Colin Crouch 2004 analysiert und mit dem Wort Postdemokratie kennzeichnet? Zuvor kritisierte der Schüler Foucaults Jacques Rancière mit diesem Begriff Tendenzen, die die Herrschaft der Eliten stärken und der Bevölkerung eine demokratische Teilnahme verwehren – eine Tendenz, die sich in der Corona-Politik verschärfte.
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27.10. Lenkt die Medizin die Demokratie, so dass diese sich in eine Medizinarchie verwandelt? Jedenfalls zwingt die Medizin der Politik ihre Maßnahmen auf, bei denen keine Rücksicht auf Menschenrechte genommen wird. Der dabei entstehende Ausnahmezustand beruht nach Walter Benjamin, Wanderer zwischen marxschen und jüdischen Welten, (1921) auf schierer Willkür. Erlassene Gesetze, so Giorgio Agamben noch während der aktuellen Corona-Politik, ändern an der damit verbundenen illegitimen Gewalt nichts.
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3.11. Werden folglich im Zuge der Corona-Politik die elitären Strukturen der Demokratie noch stärker? Oder braucht die Demokratie wissenschaftliche Eliten, die die Gesellschaft durch die großen Krisen führen, wie es sich Max Weber schon vorstellte? Braucht es dazu auch charismatische Führer? Mangelt der Medizinisierung womöglich noch an denselben? Oder braucht es gar eine abgehobene erleuchtete Elite, die Friedrich Nietzsche propagiert?
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10.11. Führt die Idee des Allgemeinwohls im Ausnahmezustand in totalitäre Strukturen? Oder zeigt sich nicht durch die Corona-Politik, dass Jean-Jacques Rousseaus Einheit von allgemeinem und individuellem Wohl möglich ist? Oder entwickeln sich dadurch totalitäre Strukturen, die Hannah Arendt bemerkt?
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17.11. Führt das politische Primat der Krankheit in eine demokratische Diktatur der Mehrheit ohne Minderheitenrechte im Sinn von John Locke, dem Begründer der liberalen Demokratie? Oder entsteht dadurch eine identitäre Demokratie nicht der Artgleichheit (Carl Schmitt), sondern der Gefährdungsgleichheit zwischen Führer und Bevölkerung?
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24.11. Entsteht durch die Corona-Politik ein militärisch-medizinisch-ökonomischer Komplex, dem die Demokratie zu dienen hat? Hat sich derart der Kapitalismus auch des Sozialstaates bemächtigt? Ist die Wertschöpfung für den Kapitalismus noch so wichtig, wie es sich Karl Marx einst vorstellte? Kann sich eine linke Politik damit nicht mehr auf die Intellektuellen stützen, wie es Antonio Gramsci noch hoffte? Die Corona-Politik wird von den meisten Intellektuellen unterstützt.
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1.12. Verstärkt sich durch die Corona-Politik das Zusammenspiel von Medizin und Medien, ohne deren tätige Mithilfe der Ausnahmezustand auf erheblich mehr Widerstand gestoßen wäre? Endet Gianni Vattimos Vorstellung einer medial gestützten pluralistischen Gesellschaft in der Vereinheitlichung der Lebensformen? Behält Pier Paolo Pasolinis düstere Prognose eines neuen Totalitarismus recht?
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8.12. Wächst die medizinisch staatliche Kontrolle der Bürgerinnen im Zuge einer verstärkten Digitalisierung? Werden sie in immer höherem Maße sich an den technologischen Prozess anzupassen, wie es indirekt Herbert Marcuse bereits diagnostiziert haben? Verstehen sie sich nur noch medizinisch digital? Können sie in diesem Sinne nur noch technisch denken, wie es Martin Heidegger prognostiziert? Ist die Demokratie dann nur noch medizinisch, digital und technologisch ausgerichtet?
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15.12. Beruht durch die Medizinisierung der Gesellschaft die Demokratie nicht mehr auf dem Konflikt, den als erster Ralf Dahrendorf als demokratische Struktur konstatierte? Ist das Wesen der Demokratie nicht mehr der Dissens, den Jean-François Lyotard der Politik ins Stammbuch schrieb? Kann sich die Demokratie angesichts von gefährlichen Krankheiten weder den Dissens noch die Infragestellung der wissenschaftlichen Wahrheit mehr leisten? Ist das das Ende der Philosophie?
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12.1. Realisiert sich die Demokratie unter der Vorherrschaft der Medizinisierung dann als Konsens-Demokratie, wie es sich Jürgen Habermas vorstellt? Gibt es mit der Medizinisierung eine gemeinsame Grundlage, von der aus politische Probleme gelöst werden? Ist also die Medizinisierung die neue Grundlage der Demokratie, auch wenn sich dadurch die biopolitischen Neigungen des modernen Staates definitiv realisieren?
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19.1. Enden mit der Medizinisierung von Staat und Gesellschaft die liberalen Tendenzen der Demokratie, wie sie John Stuart Mill begründete? Enden die diversen Emanzipationsprozesse, vor allem die Emanzipation der Frauen, der Simone de Beauvoir 1949 den Weg wies, weil mit einer autoritären Lenkung die individuellen Spielräume verengt werden? Ist der Hedonismus der Spaßgesellschaft am Ende? Darf – um mit Viktor Orbán zu schreiben – die Demokratie gar nicht liberal sein?
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26.1. Gastvorträge von Dr. Peter Seyferth (Demokratie als egalitäre politische Ordnung: Anarchismus) & Dr. Michael Meyer-Albert (Das Denken des Ernstfalls. Versuch einer genealogischen Typologie des Intellektuellen im Hinblick auf die heutige globale Situation)
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2.2. Wird sich mit der Medizinisierung und der Digitalisierung die Verwissenschaftlichung der Alltagswelt durchsetzen? Darf man dann nicht mehr sprechen, wie man will, sondern nur noch so, wie es vorgeschrieben wird? Endet die Alltagssprache, die noch für Edmund Husserl und Ludwig Wittgenstein die Grundlage der Wissenschaften darstellt, in umfassenden Sprachregelungen – natürlich wie immer um Leben zu retten? Wird das aber nicht die Sprache verstümmeln, wovor schon Theodor W. Adorno warnte?
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9.2. Realisiert sich dadurch die technisch implantierte Utopie, das Ideal des Francis Bacon, dass technischer Fortschritt humaner Fortschritt ist? Sind damit alle anderen sozialen Utopien beseitigt? Kann es im Zeitalter der Medizinisierung gar keine herrschaftsfreie anarchistische Utopie mehr geben, wie sie Michail Bakunin vorschwebt. Ist das auch das Ende von Ernst Blochs Hoffnung auf Heimat als realer Demokratie?
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16.2. Gastvorträge von Paul Stephan (Digitalisierung und moderne Medizin als Chancen der Demokratie – Überlegungen mit Ernst Bloch) & Konstanze Caysa (Menschenwürde und Autoevolution)
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23.2. Oder hat dergleichen Jacques Derrida bereits in den Neunzigern geahnt? Oder traute er schon der damaligen Demokratie nicht über den Weg? Kann man angesichts der Medizinisierung von Politik und Gesellschaft nur auf eine kommende Demokratie hoffen? Könnte dazu ein widerständiges Individuum beitragen, das im Sinne von Michel Foucault an den Maßnahmen des medizinischen Ausnahmezustands dreht oder sich ihm mit Jean-Paul Sartre schlicht widersetzt?
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Literatur
Theodor W. Adorno, Versuch das ‚Endspiel‘ zu verstehen (1961), Frankfurt/M. 1973
Giorgio Agamben, Ausnahmezustand – Homo sacer II.1 (2003), Frankfurt/M. 2004
Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1951), 9. Aufl. München 2003
Karl-Otto Apel, Diskurs und Verantwortung – Das Problem des Übergangs zur postkonventionellen Moral, Frankfurt/M. 1988
Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht – Sitte und Sexus der Frau (1949), 5. Aufl. Reinbek 2005
Walter Benjamin: Zur Kritik der Gewalt (1921) und andere Aufsätze, Frankfurt/M. 1965
Ernst Bloch, Naturrecht und menschliche Würde (1961), Frankfurt/M. 1977
Colin Crouch: Postdemokratie (2004), Bonn 2008
Ralf Dahrendorf, Der moderne soziale Konflikt. Essays zur Politik der Freiheit, Stuttgart 1992
Jacques Derrida, Das andere Kap – Die vertagte Demokratie – Zwei Essays zu Europa (1991), Frankfurt/M. 1992
Jacques Derrida, Marx‘ Gespenster – Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale (1993), Frankfurt/M. 2004
Jacques Derrida, Politik der Freundschaft (1994), Frankfurt/M. 2002
Michel Foucault: Die Regierung des Selbst und der anderen, Vorlesung am Collège de France 1983 (2008). Frankfurt/M. 2009
Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne – Zwölf Vorlesungen, Frankfurt/M. 1985
Martin Heidegger, Der Satz der Identität (1957), in: Identität und Differenz, 10. Aufl. Stuttgart 1996
John Locke, Über die Regierung (The Second Treatise of Government, 1690), Stuttgart 1974
Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen (1979), 3. Aufl. Wien 1994
Jean-François Lyotard, Der Widerstreit (1983: Le Différend), München 1987
Herbert Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft – Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud (1957), Frankfurt/Main 1970
Karl Marx, Das Kapital Bd. 1 (1867), Marx Engels Werke (MEW) Bd. 23, Berlin 1979
John Stuart Mill, Über Freiheit (1859), Frankfurt/M., Wien 1969
Friedrich Nietzsche, Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten. (1872), Kritische Studienausgabe (KSA) Bd. 1, München, Berlin, New York 1999
Pier Paolo Pasolini, Freibeuterschriften – Die Zerstörung der Kultur des Einzelnen durch die Konsumgesellschaft (1975), Berlin 1978
Jacques Rancière, Das Unvernehmen – Politik und Philosophie (1995), Frankfurt/M. 2002
Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag (1762), Politische Schriften Bd. 1, Paderborn 1977
Carl Schmitt, Politische Theologie – Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität (1922), 8. Aufl. Berlin 2004
Hans-Martin Schönherr-Mann, Gesicht und Gerechtigkeit – Emmanuel Lévinas‘ politische Verantwortungsethik, Innsbruck 2021
Ders., Sartres Existentialismus als politische Philosophie des Widerstands, Norderstedt 2021
Ders., Arendt als politische Philosophin, Norderstedt 2020
Ders., Dekonstruktion als Gerechtigkeit – Jacques Derridas Staatsverständnis und politische Philosophie, Baden Baden 2019
Ders., Untergangsprophet und Lebenskünstlerin – Über die Ökologisierung der Welt, Berlin 2015
Hans-Martin Schönherr, Verführung mit Aids – eine philosophische Satire in sechs Monologen, Wien 1989
Max Weber, Politik als Beruf (1919), Gesammelte politische Schriften, 3. Aufl. Tübingen 1971
Ludwig Wittgenstein, Philosophische Bemerkungen (1929/30), Werkausgabe Bd. 2, Frankfurt/M. 1984
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