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Vortragsreihe im SoSe 22: Einführung in radikale Philosophie II

Einführung in radikale Philosophie

Die Lieblingsphilosophen der HARP

donnerstags um 20 Uhr 15

21. 4. 2022 – 7. 7. 2022

In dieser Reihe wollen wir, Philosophinnen und Philosophen aus dem Umfeld der Halkyonischen Assoziation für radikale Philosophie, in sieben längeren Vorträgen einige derjenigen Denker vorstellen, die unseres Erachtens besonders wichtig sind für eine „radikale Philosophie“ der Gegenwart: Platon, de Sade, Schopenhauer, Kierkegaard, Stirner, Nietzsche und Deleuze & Guattari. Alle diese Philosophen haben sich auf ihre eigene Weise um die grundsätzliche Kritik ihrer Zeit verdient gemacht und die Fackel der Aufklärung weitergereicht.

Die Vorträge sollen jeweils zu den genannten Terminen auf unserem Youtube-Kanal übertragen werden, im Anschluss kann man noch per Zoom über den Vortrag diskutieren. Wer an den Diskussionen teilnehmen möchte, soll sich bitte mit einer kurzen Mail an harp [at] riseup.net (oder auch dort) anmelden.

Gefördert vom studentischen Projektrat der Universität Frankfurt a. M.

 

21. 4.: Platons Philosophie: Dialektik und die Liebe zur Idee

Referent: Dr. Emanuel Seitz

Die Philosophie der Welt beginnt im Gespräch. Aus den Dialogen Platons erhebt sich ein Stimmgewirr aus Reden und Gegenreden, aus Fragen, Antworten und Aporien, aus vernünftigen Analysen und unvernünftigen Träumen und Wunschbildern einer idealen Welt. Den Menschen Platon kennen wir kaum, aber wir kennen wohl Platons Menschen; an erster Stelle Sokrates, den Ur-Philosophen und unermüdlichen Fragensteller, den bewusst Unwissenden, der für die Freiheit des Denkens sein Leben opferte. Er beherrscht die einzig sichere Methode zur Erkenntnis des Seins: die Dialektik. Platons Werk – das ist Dialektik in all ihrer Vielfalt und Lebensenergie.

Zum ersten Mal erscheint eine genuin philosophische Methode des Denkens in der Weltgeschichte. Ein Mensch braucht Dialektik, um sich aus der Welt der Erscheinungen herausreflektieren zu können. Er übersteigt den Wechsel und Wandel des je schon Gewussten und macht sich auf die Suche nach dem wahren Sein einer bleibende Idee, die ein stabiles Wissen von der Sache selbst garantiert. Dialektik ebnet den Weg zur Unterscheidung von Sein und Schein, Wissen und Meinung, Idee und Wirklichkeit, Werden und Wahrheit.

Fern dem dürren Vernünfteln der professoralen Diskurse spricht die Gedankenhebamme Sokrates in den kunstvoll inszenierten Dialogen als Mensch zu Menschen. Der Geist wird hier Kraft in unsterblichen Bildern und Parabeln, die seit zweitausend Jahren die Menschheit zum Denken verführen. Atlantis, das Höhlengleichnis oder die Kugelmenschen spielen mit der Erotik einer enthusiastischen Wahrheit. Wie selten sonst, wird hier Idee zu einer großen Form, in der Vernunft und Fiktion verschmelzen.

Die Vorlesung widmet sich Platon als Ursprung der Dialektik und Ideenlehre sowie als Lehrer des philosophischen Redens, Sprechens und Lebens.

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12. 5.: Konstanze Caysa: Liebe im Kapitalismus (zu de Sade)

Referentin: Dr. Konstanze Caysa

Was man unter Liebe und Sex versteht, ist nicht davon zu trennen, was man unter normalen und unnormalen Geschlechts- und damit verbundenen Körperverhältnissen in der Moderne versteht. In dem Diskurs über die Normalität bzw. Unnormalität der Liebe aber zeigt sich, das Normalitätsvorstellungen nicht von der Natur an sich vorgegeben sind, sondern dass dies kulturelle Konstrukte sind, die einer besonderen Dialektik der Aufklärung unterliegen. Der Wandel der Normalitätsvorstellungen von Liebe ist aber nicht zu trennen, von der Aufklärung des angeblich von Gott selbst oder der Natur an sich vorherbestimmten Leibes. Wie das Geschlecht erweist sich der Leib als etwas durch uns und von uns selbst Gemachtes, um das wir uns, wie für die Liebe und den Sex, auch zu sorgen haben.

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19. 5. Schopenhauers Welt: Das Subjekt, der Wille und die Vorstellung

Referent: Dr. Emanuel Seitz

Die Philosophie der Neuzeit, beginnend mit Kant und Descartes, hat die unaufhörliche Tendenz zu einem Subjektivismus, der radikalisiert auf die These hinausläuft: Die Welt ist Wille und Vorstellung.

Von selbst wirkt nur der Wille, alles andere ist bewirkt und produziert durch die Vorstellungen, die sich das Subjekt vom Objekt macht, um das Objekt dem Subjekt verfügbar zu machen. Es gibt keinen anderen Zugang zum Sein – und auch keine andere Wirklichkeit – als den Appetit und die Perzeptionen einer monadisch verfassten Vielheit der Subjekte. Am Ende dieses Weges steht der solitäre Subjektivismus Schopenhauers: Das Ich kann zwischen sich und der Welt nicht mehr unterscheiden. Diese Interpretation des Seins wirkt fort bis zum radikalen Konstruktivismus der Postmoderne mit seinen Irrlehren vom allmächtigen Ich.

Schopenhauer hat diese moderne Metaphysik des Subjekts so grob und einfach durchdacht, dass aus ihr eine große Weisheit folgt – eine schwarze, mies gelaunte, stets zum Lachen reizende Weisheit, die alle Wissenschaft zur Hand hat und doch nicht Wissenschaft ist. Sie legt die Grundlage zur Überwindung der neuzeitlichen Metaphysik – indem sie ernst macht mit dem größtmöglichen Subjektivismus, der kein Irrsinn ist.

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26. 5.: Kierkegaard – Für eine Ethik des kritischen Individualismus I

Referent: Paul Stephan

Der dänische Philosoph Søren Kierkegaard ist der wohl erste bedeutende Philosoph, der das Individuum und seine je eigene Suche nach Sinnstiftung und Authentizität konsequent in den Mittelpunkt seines Denkens rückt. Er gilt als der Begründer der Existenzphilosophie und Antipode von Karl Marx – aber auch als bedeutender Kulturkritiker, mit dem sich sowohl der junge Georg Lukács als auch der junge Theodor W. Adorno intensiv beschäftigten.

Der Vortrag möchte zeigen, dass Kierkegaards Ideen noch immer taugen, um oberflächliche Formen des Individualismus zurückzuweisen und eine Ethik eines kritischen Individualismus zu konzipieren. Dieser besteht in einer Doppelbewegung: Es gilt einerseits das falsche bestehende Allgemeine zurückzuweisen, andererseits jedoch, die Idee des Allgemeinen nicht komplett preiszugeben. Jeder Einzelne soll für sich vielmehr einen eigenen, authentischen Zugang zu einer höheren Allgemeinheit gewinnen, die Kierkegaard „Gott“ nennt. Erst diese Bezugnahme stiftet Kierkegaard zufolge gelingende Individualität. Kierkegaards Schriften inspirieren so zu einem individuellen Widerstand gegen eine kollektivistische Gesellschaft, der jedoch zugleich nicht solipsistisch ist, sondern auf eine wahrhafte Allgemeinheit abzielt, die noch nicht ist, aber sein sollte.

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2. 6.: Max Stirner: Mit radikalem Egoismus alle anderen links überholen

Referent: Dr. Peter Seyferth

Max Stirner war ein „One Hit Wonder“, hat also nur ein relevantes Werk veröffentlicht: Der Einzige und sein Eigentum. Das aber hatte es in sich. Im Kreis der „Freien“, also der diskutierenden und weintrinkenden Linkshegelianer fiel er damit unangenehm auf, dass er radikaler als alle anderen war. Vielleicht würde man ihn heute als Dekonstruktivisten oder als Postmodernen einordnen, weil er jeden Essenzialismus zerstörte und gründliche Ideologiekritik nicht nur an der herkömmlichen bürgerlichen, sondern auch an der zeitgenössischen radikalen Philosophie übte. Aber dieses Etikett würde Stirner empört von sich weisen. Auch dass er später dem Anarchismus zugeordnet wurde (zunächst polemisch von den Anarchismusfeinden Marx und Engels, später positiv vereinnahmend von einigen Anarchisten selbst), hätte ihm nicht gefallen. Stirner war für keine Sache zu gewinnen, nicht einmal für „die gute Sache“.

Stattdessen entwarf er eine auf das Ich bezogene Philosophie, die die Motivation des Menschen auf den Egoismus reduzierte. Zunächst einmal ist dabei jedem Ego alles erlaubt. Die unweigerlich entstehenden Konflikte sollen nicht durch Recht, sondern durch Macht gelöst werden. Dabei sollen Vereine helfen, die jederzeit gegründet und wieder aufgelöst werden können, und die ihre Zwecke je selbst setzen. Auf diese Weise umgeht Stirner den Idealismus der politischen Theorie. Von Idealen hält Stirner nichts. Auch lehnt er utopische Verfassungsentwürfe besserer Gesellschaften ab. Ist Stirners Philosophie also vor allem destruktiv? Immerhin wäre ihr zufolge ja auch Mord erlaubt.

Es ist aber zu bedenken, dass in Stirners Philosophie Mord auch nicht befohlen werden kann – und insofern ist sie weniger blutrünstig als so manche Staatstheorie. In der Vorlesung werde ich zentrale Argumente aus Der Einzige und sein Eigentum vorstellen, bewerten und kritisieren. Und dann stelle ich mich der Diskussion … sofern ich Lust dazu habe.

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16. 6.: Nietzsche – Für eine Ethik des kritischen Individualismus II

Referent: Paul Stephan

„Glattes Eis / Ein Paradeis / Für Den, der gut zu tanzen weiss.“ Dieser Vers aus der Fröhlichen Wissenschaft könnte Nietzsches Gesamtwerk als Motto vorangestellt werden. Nietzsche zeigt sich immer als Wandler zwischen den Extremen. Wie ein „Seismograph“ (Ernst Jünger) registriert er in seinen Werken die Stimmungen seiner Epoche; und die Ausschläge sind oft heftig. Sein Denken kennzeichnet einerseits utopische, auf die kulturelle Befreiung der Menschen hindeutende, Tendenzen, andererseits äußert er sich selbst immer wieder im Sinne der äußersten Reaktion. Er träumt von einem neuen Zeitalter der Freigeistigkeit und Sinnlichkeit – doch kann sich diese Freiheit zugleich nur als Unterdrückung der „Herde“ durch wenige erlesene „Genies“ vorstellen.

Der Vortrag will zeigen, dass sich sowohl Faschisten wie der frühe Ernst Jünger, Benito Mussolini oder Joseph Goebbels als auch Anarchisten und Sozialisten wie Gustav Landauer, Emma Goldman, Theodor W. Adorno, Ernst Bloch, Herbert Marcuse, Albert Camus oder Georges Bataille zu Recht auf Nietzsche bezogen, jedoch entweder die eine oder die andere Seite von Nietzsches Denken ausblenden mussten. Und dies mit Notwendigkeit: Nietzsche bemühte sich in seinen hellsten geistigen Momenten vergeblich um eine Synthese der „Möglichkeiten des Lichts“ (Bloch) und der Unheilspotentiale seiner Zeit. Der Entscheidung zwischen beiden Tendenzen ausweichend, permanent zwischen dem einen und dem anderen Extrem hin- und hergerissen musste dieser Denker letztlich geistig wie persönlich zerschellen. Wir können von Nietzsche ex negativo lernen, dass es ein unentschiedenes Denken in einer antagonistischen Gesellschaft nicht geben kann. Der kritische Impuls seines Denkens kann nur bewahrt werden, wenn man ihn um das existenzialistische Moment der Entscheidung und das materialistische Moment der Utopie und der Hoffnung ergänzt – die in seinen Schriften gleichfalls, Sternschnuppen gleich, aufblitzen.

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7. 7.: Deleuze & Guattari – Jenseits der Wahrheit

Referent: Mandus Craiß

Wenn man eine radikale Philosophie im eigentlichsten Sinne sucht, muss man auf Werke aus der Kooperation des Philosophen Gilles Deleuze und des Psychologen Félix Guattari stoßen: In ihren beiden berühmten und umstrittenen Werken zu „Kapitalismus und Schizophrenie“ aus den Jahren 1972 (Anti-Ödipus) und 1980 (Tausend Plateaus) umreißen sie eine positive Utopie als Antwort auf Michel Foucaults Machtkritik, welche radikal-anarchistisch von jeder Form der Herrschaft abrückt und dabei von der Ethnologie nomadischer Kulturen bis zur Quantenphysik und Alchimie sämtliche Bereiche der Gesellschaftstheorie, Philosophie, ja des gesamten Weltbilds auf eine neue Grundlage stellen möchte. Einer der Kerngedanken in der von Foucault bekannten Analyse, dass Wissen abhängig von Machtkonstellationen ist, wird von Deleuze und Guattari noch in etliche tiefere Dimensionen geschraubt und insofern bekommt Foucaults prophetischer Ausspruch, „das 21. Jahrhundert wird deleuzianisch sein“, in Zeiten post-faktischer Fake-News eine Brisanz, die kaum zu überbieten ist. Mehr als genug Gründe, sich eingehender mit Deleuze und Guattari zu befassen, doch auch die ästhetische und tiefenpsychologische sowie die biographische Seite der beiden französischen Autoren lohnen einen Blick, mit dem dieser Vortrag – auch unter Einbeziehung kritischer Aspekte –, in das „deleuze-guattarische Wunderland“ entführen möchte.

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Zu den Referenten:

Konstanze Caysa ist freie Philosophin und lebt in Leipzig. Sie promovierte zum Thema Yearning bodies – a metatropy an der Universität Leipzig. 2002 bis 2010 war sie Mitglied des Vorstandes der Nietzsche-Gesellschaft. Publikationen u. a.: Experimente des Leibes (mit Volker Caysa, 2008), Nietzsche – Macht – Größe (mit Volker Caysa, 2010), Sehnsüchtige Körper – Eine Metatropie (2011), Askese als Verhaltensrevolte (2015), Denken des Empraktischen (mit Harko Benkert, 2016). Website: www.empraxis.net.

Mandus Craiß ist Politologe und Kulturwissenschaftler, Dichter und Philosoph, arbeitet derzeit freiberuflich bei einer Umwelt-NGO und organisiert gerne Räume der frei rhizomierenden Begegnung, u. a. Kontakt-Tanz-Events, legt als DJ auf und trägt seine Gedichte auf Lesebühnen vor. Einst leitender Redakteur der legendären anarchistischen Umwelt-Zeitschrift Kritische Masse sowie Referent zu Themen wie Medienmacht, Globalisierung, Gipfelproteste, soziale Bewegungen und Utopien. Derzeitig einerseits viel – in Anlehnung an Deleuze – nomadisch unterwegs, andererseits in einem Hausprojekt wohnend; einerseits Mitglied der Erich Fromm-Gesellschaft, andererseits Mitglied der HARP! …!

Emanuel Seitz ist Redaktionsmitglied der Narthex. Er promovierte sich in Amsterdam bei Josef Früchtl mit einer philosophischen Studie, die 2019 bei Klostermann unter dem Titel List und Form. Über Klugheit erschien.

Peter Seyferth ist ein freiberuflicher promovierter politischer Philosoph, der an mehreren Universitäten Politikwissenschaft unterrichtet hat. Er hat sich auf Anarchismus und Utopie spezialisiert.

Paul Stephan ist Redakteur der Narthex, in Leipzig lebender Philosoph und Autor zahlreicher Aufsätze und Bücher, zuletzt Links–Nietzscheanismus. Eine Einführung und Bedeutende Bärte. Eine Philosophie der Gesichtsbehaarung (jeweils 2020).